Wer die aktuelle Pflegediskussion in den deutschen Medien verfolgt, der könnte denken, dass schon bald das ganze Land an Siechtum leidet. „Jeder dritte Deutsche wird dement“, titelte etwa der der Stern bei der Vorstellung des Pflegereportes 2010, hob damit auf die steigende Wahrscheinlichkeit für die Generation Ü80 ab, an Altersverwirrtheit zu erkranken. Andere Zeitungen titeln ähnlich. Auch wer Frank Plasbergs Hart aber fair-Sendung zum Thema Pflege vor dem Fernseher verfolgte, dem konnte Angst und Bange werden. Unter dem Titel „Risikofaktor Alter – wer kann sich Pflege in Würde leisten?“ wurde über Windeln und Bettlägerigkeit debattiert. Eine Maklerhomepage spitzt zu: „Der größte Teil des Lebens-Melodrams spielt im Herbst“ und beschwört Krankheitsszenarien herauf, um vor der „Armutsfalle Pflege“ zu warnen. „Die meisten Menschen haben das Problem einfach nicht erkannt!“ Werden die meisten deutschen Senioren also bald im Altersheim dahin siechen?

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Die furchtbar gesunden Alten

Sprechen die aktuellen Beiträge zur Pflegedebatte auch ein wichtiges Thema an – die ethischen wie finanziellen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft, so vermitteln sie doch ein einseitiges Bild. Denn nie durfte die deutsche Bevölkerung so sehr wie heute darauf hoffen, ein langes und gesundes Leben zu führen. Frieder Lang, Leiter des Institutes für Psychogerontologie an der Universität Erlangen, erklärte gegenüber der Zeitschrift Capital: „Heute ist man mit 70 im Durchschnitt so fit wie mit Anfang 50.“ Ein weiterer Fakt stimmt optimistisch: Studien haben gezeigt, dass die Generation der über 70jährigen noch aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, die Menschen auch in ihrem Lebensherbst Sport treiben, Kultur wahr nehmen und den Alltag selbstbestimmt gestalten. Wir werden nicht nur immer älter, sondern bleiben auch immer länger gesund! Hier fordern eine gesunde Lebensweise und ein hoher Lebensstandard ihren Tribut.

Auch die Pflegedebatte erhält eine zusätzliche Brisanz durch die Tatsache, dass die Lebenserwartung steigt. Laut Statistischem Bundesamt kann derzeit jeder zweite Mann auf seinen 80. Geburtstag hoffen, jede zweite Frau erlebt sogar ihren 85. Geburtstag. Schon bald könnte eine Lebenserwartung von 100 Jahren realistisch sein. Damit erhöht sich zwar gleichsam das Risiko, im Alter zum Pflegefall zu werden: im Jahr 2008 war jeder zweite Leistungsempfänger der gesetzlichen Pflegeversicherung 80 Jahre und älter. Zu Panikmache besteht dennoch kein Grund, denn viele Menschen werden den Lebensherbst trotz Einschränkungen genießen können.

Tatsächliche und gefühlte Gesundheit

Ein Umstand, der in der Gesundheitsdebatte gern vernachlässigt wird, ist die Inkongruenz von tatsächlicher und gefühlter Gesundheit. Zwar nehmen die Beschwerden im Alter zu, treten vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Stützapparates verstärkt auf. Doch entscheidend für das eigene Gesundheitsempfinden ist nicht, dass man keine Krankheiten hat, sondern dass man sich gesund fühlt. Hier lässt eine Studie mit dem Titel "Gesundheit und Krankheit im Alter" aus dem Jahr 2009 aufhorchen, denn sie zeigt, dass ältere Menschen hinsichtlich ihres Wohlempfindens bemerkenswerte Anpassungsleistungen vollbringen.

Gemäß der Studie werden die Kategorien für das eigene Gesundheitsempfinden im Alter nach unten korrigiert. Man rechnet damit, krank zu werden, und lernt, mit den Einschränkungen zu leben. Die Folgen dieser Anpassung sind positiv: Chronische Krankheiten werden mit ihrer Fortdauer als weniger belastend wahr genommen. Auch das Einnehmen von Medikamenten wird als „normal“ akzeptiert. Selbst dass man sich nach einem Herzinfarkt langsamer bewegen muss, ist plötzlich kein Handicap mehr. Man fühlt sich den Umständen entsprechend gut.

Bei all dem Optimismus mag es da nicht verwundern, dass Ruheständler ihr Wohlbefinden tendenziell positiv einschätzen. In einer Befragung unter Senioren gaben zwei Drittel aller Interviewten an, sich noch jung fühlen, bei einem stolzen Durchschnittsalter von 71,5 Jahren. Das Fazit der Autoren: „Die Verschlechterung der subjektiven Gesundheit folgt keiner altersinhärenten Gesetzmäßigkeit.“ Eine Langzeitstudie der Universität Yale kam sogar zu dem Ergebnis, dass eine positive Einstellung zum Alter das Leben verlängern kann.

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Alles Pflegefälle, oder was?

Eine positive Sicht auf den Lebensabend ist trotz aller Herausforderungen also geboten. Der Altersforscher Andreas Kruse, Direktor am Institut der Gerontologie der Universität Heidelberg, fordert ob der optimistisch stimmenden Zahlen eine neue Einstellung zum Altern. Gegenüber dem Nachrichtenmagazin Focus sagte er: „Wir müssen den Anti-Aging durch einen Pro-Aging-Trend ersetzen“. Doch während Experten ein positives Leitbild einklagen, während gleichsam immer mehr Menschen hohe Erwartungen an den Herbst ihres Lebens formulieren, überwiegen in der Pflegedebatte die Botschaften von Siechtum und Krankheit. Kann man die Schlagzeile: „Jeder Dritte über 80 Jahren wird zum Pflegefall“ nicht auch so interpretieren, dass immerhin zwei Drittel der über 80jährigen den Lebensabend wird selbstbestimmt gestalten können?



mw