Es war genau vor zehn Jahren, am 16. August 2002, als sich Gerhard Schröder vom damaligen VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz im Kanzleramt eine CD-Rom überreichen ließ. Auf dem Datenträger waren jene Reformideen enthalten, die das Land fortan spalten würden: Es war die erste Präsentation der Hartz-Reformen. Wenig später präsentierte der Ex-Bundeskanzler sein Konzept im Französischen Dom am Berliner Gendarmenmarkt in einer pompösen Inszenierung. Herzstück der Reform: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV, eingeführt zum 01. Januar 2005.

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Seitdem ist die Diskussion um die Arbeitsmarktreform nie ganz verstummt. Die alten SPD-Granden sind heute überzeugt, dass sie damals richtig handelten. „Wir haben zwei Millionen Arbeitslose weniger im Vergleich zu 2005, als die Reformen umgesetzt wurden“, sagte Gerhard Schröder der BILD-Zeitung (Donnerstag). „Das ist ein Gewinn für die Gesellschaft, aber vor allem für die, die Arbeit gefunden haben und für ihre Familien.“ Auch Ex-SPD-Chef Franz Müntefering diktierte der Frankfurter Rundschau zur Hartz-Reform: „Ich zumindest bin stolz darauf“. Zwar räumte Müntefering Probleme bei der Umsetzung ein, unter anderem sei die Reform zu schnell gekommen. Aber im Kern sei Hartz richtig gewesen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat an den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ihrer Vorgängerregierung festgehalten – und diese sogar ausgebaut, etwa indem Erwerbslose schneller sanktioniert werden können. Folglich findet auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zum heutigen Jubiläum viele lobende Worte. Der „Passauer Neuen Presse“ sagte sie: „Die Reformen haben Deutschland unter dem Strich geholfen.“ Der deutsche Arbeitsmarkt sei seinerzeit verkrustet, die Arbeitsverwaltung eine unbewegliche Behörde gewesen. „Jetzt ist sie ein moderner Dienstleister, der sogar in die Schulen geht, um präventiv gegen Arbeitslosigkeit zu wirken“.

Hartz IV – für viele Ökonomen ein Erfolgsmodell

Doch welche Auswirkungen hatten die Hartz-Reformen tatsächlich für Deutschland? Hier gehen die Expertenmeinungen weit auseinander. Befürworter verweisen darauf, dass die Arbeitslosigkeit in der Tat gesunken sei: Offiziell gelten derzeit 2,88 Millionen Menschen als arbeitslos, 2005 waren es noch rund 5 Millionen. Gerade die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes habe dazu beigetragen, dass Menschen schneller eine Arbeit finden. So habe sich etwa die stärkere Förderung von Teilzeitarbeit und des Niedriglohnsektors in Krisenzeiten ausgezahlt.

Ökonomen wie Hans Werner Sinn, Chef des arbeitgebernahnen ifo-Institutes, forderten sogar eine weitere Senkung des Regelsatzes. Die einfache Logik des Wirtschafts-Experten: Wenn mehr Menschen bereit seien, aufgrund niedriger Hartz-Leistungen einen Billigjob anzunehmen, könne die Wirtschaft noch mehr in entsprechende Arbeitsplätze investieren und das Wachstum ankurbeln. In einem Interview mit der Zeitschrift "Welt" schlug Sinn 2010 eine besondere Form der "aktivierenden Sozialpolitik" vor: Kommunen und Zeitarbeitsfirmen sollen Sozialleistungsempfänger gemeinsam in die Privatwirtschaft vermitteln, wo sie notfalls für einen Lohn in Höhe des Hartz IV-Satzes arbeiten.

Positiv äußerte sich auch der Sachverständigenrat der Bundesregierung. „Die günstige Weltkonjunktur, eine beschäftigungsfreundliche Tarifpolitik und die Arbeitsmarktreformen“ seien Grund dafür, dass Deutschland vom Sorgenkind zur Wachstumslokomotive Europas wurde. Die aktuellen Zahlen scheinen dieser Einschätzung Recht zu geben: Nur in Österreich und in den Niederlanden sind die Arbeitslosenquoten derzeit niedriger.

Wettbewerbsvorteile auf Kosten der Beschäftigten?

Das deutsche Jobwunder hat allerdings eine Schattenseite: Der Druck auf die Arbeitnehmer ist durch die Hartz-Gesetze gestiegen. Weil Hartz IV kaum zum Leben reicht, nehmen die Menschen Arbeit an, von der sie ebenfalls kaum leben können. Sie lassen sich in schlecht bezahlte Mini- und Midijobs, in Teilzeitarbeit und prekäre Beschäftigung drängen. Allein zwischen 1998 und 2008 explodierte die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse um 46,2 Prozent (Angabe nach Statistischem Bundesamt). Die Arbeitsagentur unterstützt Niedriglöhne zusätzlich, indem Arbeitnehmer mit geringem Einkommen finanzielle Hilfen erhalten – Kritiker sehen hierin eine staatliche Subvention schlechter Jobs.

Entsprechend heftig fällt das Fazit der Kritiker aus. „Die Hartz-Reform ist nicht nur in ganzer Linie gescheitert, sondern hat zur Amerikanisierung des deutschen Arbeitsmarktes und zur tiefen Spaltung der Gesellschaft beigetragen“, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Drangsalierungen gegen Arbeitslose und teils willkürliche Kürzungen der Bezüge ließen Gegner zudem früh von einem „Kampf gegen Arbeitslose“ sprechen, der von der Politik statt eines "Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit" geführt werde.

Gegenüber den europäischen Nachbarn verschafften sich die deutschen Unternehmen mit ihrer Lohnzurückhaltung freilich einen Wettbewerbsvorteil. Wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) betont, ist Deutschland bei den Niedriglöhnen europäischer Spitzenreiter – im Vergleich etwa zu Ländern wie Großbritannien oder Frankreich, wo ein verbindlicher Mindestlohn die Lohnuntergrenze vorgibt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnte im Juli, dass infolge der zurückgegangenen Tarifbindungen die Lohnungleichheit in Deutschland immer mehr zunehme: auch dies eine Folge der Arbeitsmarktreformen. Die Angst vor Hartz4 unterstützt die Akzeptanz schlechter Jobs.

Ökonomen begrüßen hingegen die wirtschaftsliberale Sozialpolitik. „Deutschland hat in den letzten zehn Jahren hervorragende Arbeit geleistet“, meinte etwa die frühere französische Wirtschaftsministerin und heutige Präsidentin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, im März 2010. »Es hat seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert und die Lohnkosten deutlich gedrückt.“ Dass Deutschland Exportweltmeister ist, aber auf eine verhältnismäßig schwache Inlandsnachfrage blickt, hat auch mit den Hartz IV-Reformen zu tun. Schlecht bezahlte Jobs sind immer noch besser als gar keine, argumentieren die Agenda-Befürworter, und verweisen darauf, dass infolge der guten Konjunktur auch die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse wieder zulegen.

Hohes Maß an Unterbeschäftigung

Doch ist das deutsche Jobwunder wirklich so ungetrübt, wie die Befürworter Glauben machen wollen? Pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum der Agenda 2010 veröffentlichte das Statistische Bundesamt eine Studie, die auf die hohe Unterbeschäftigung in Deutschland hinweist. Demnach wünschten sich im Jahr 2011 rund 7,4 Millionen Bundesbürger mehr Arbeit. Diese Menschen wollen länger und umfangreicher arbeiten, können dies aber aus vielfältigen Gründen nicht – etwa weil sie in Teilzeitjobs feststecken, ihre Angehörigen pflegen oder keinen Kinderbetreuungsplatz finden. Viele dieser Menschen haben überhaupt keinen Job, rutschen aber aufgrund statistischer Tricks aus den Arbeitslosenzahlen (der Versicherungsbote berichtete).

Kritiker sehen gerade in der Förderung von Arbeitslosen noch deutlichen Nachholbedarf. Zu einseitig würden die Jobcenter den Schwerpunkt auf Sanktionierungen legen. Vom Slogan „Fördern und Fordern“ sei vor allem das Fordern übrig geblieben, kritisiert etwa der Paritätische, denn dreiviertel aller Betroffenen würden langfristig in Hartz4 verbleiben. „Hartz IV ist eine perspektivlose Sackgasse, kein Sprungbrett“, so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen.

Auch Ulrich Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sieht weiteren Verbesserungsbedarf. Viele Langzeitarbeitslose hätten selbst in der vergleichsweise guten konjunkturellen Situation nur geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt, kritisiert er. Zudem gebe es Menschen, die nur kurzzeitig einen Job hätten. „Bei diesen Menschen reicht es nicht, ihnen einen Job zu vermitteln. Manche brauchen eine individualisierte Betreuung, teils auch mit sozialpsychologischer Beratung und einer längeren Begleitung“, erläutert der Arbeitsmarktforscher. Das erfordere auch von den Jobcentern eine weitere Professionalisierung - Hartz IV bleibe deshalb eine offene Baustelle.

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Die Reformen im Detail:

  • Hartz I sollte den Arbeitsmarkt flexibilisieren, dafür wurden die Regeln für Leiharbeit gelockert. Außerdem war es fortan privaten Personal-Service-Agenturen erlaubt, Arbeitslose zu vermitteln.
  • Hartz II bewirkte eine stärkere Förderung des Niedriglohnsektors und von geringfügiger Beschäftigung. Mini- und Midijobs wurden fortan von den Arbeitscentern unterstützt, die berühmt-berüchtigten Ich-AGs eingeführt und anschließend wieder abgeschafft.
  • Hartz III sorgte für den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit. Aus den Arbeitsämtern sollten mit den Jobcentern moderne Arbeitsvermittlungsagenturen werden. Die eingeführte Mischverwaltung von Bund und Kommunen wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.
  • Hartz IV beinhaltete die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Arbeitslosengeld II

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