“Willst du endlich glücklich sein, dann wirf dir doch ne Pille ein“? Dies wäre möglicherweise ein passender Slogan für den Großversuch der AOK Niedersachsen. Wie die Financial Times Deutschland heute berichtet, will der Kassenanbieter Schizophrenie-Kranke einem Pharmakonzern anvertrauen. Zwei Tochterfirmen des Herstellers Janssen-Cilag sollen die Rundumversorgung der Patienten gewährleisten – aktuell sind 81 Ärzten und 23 Pflegedienste in das Projekt integriert. Doch der Modellversuch droht zu scheitern, denn seit dem Start im Oktober 2010 haben sich erst 500 Patienten eingeschrieben. Das Gesamtpotential der zu betreuenden Patienten in Niedersachsen wird aktuell auf 13.000 geschätzt.

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Dass Pharmafirmen überhaupt die Versorgung psychisch kranker Menschen leiten dürfen, macht eine Gesetzesänderung der schwarz-gelben Koalition möglich. Seit 2011 ist es pharmazeutischen Firmen erlaubt, Projekte zur sogenannten „Integrierten Versorgung“ (IV-Projekte) zu koordinieren. Dabei sollen Ärzte, Krankenhäuser und andere Gesundheitsdienstleister wie Psychotherapeuten oder Apotheker besser vernetzt werden, die Krankenkassen versprechen sich Einsparungen in Milliardenhöhe. „Die Pharmaindustrie ist genauso ein Leistungserbringer wie ein Arzt oder Krankenhaus“, sagt ein Sprecher von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) – warum also sollte nicht auch ein Pharmaunternehmen Gesundheitsprojekte im Namen der Krankenkassen koordinieren?

Kooperation zu Lasten der Patienten?

Dass ein Interessenkonflikt besteht, ist zumindest nicht auszuschließen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Unternehmen bevorzugt ihre eigene Psychopharmaka verschreiben und alternative Therapieansätze zugunsten von Pillen vernachlässigen. Janssen-Cilag ist eine Tochter des amerikanischen Konzerns Johnson & Johnson, der eines der umsatzstärksten Medikamente gegen Schizophrenie vertreibt. Ist es da nicht eine wahre Goldgrube, wenn man direkt auf die Patienten zugreifen kann?

Die Befürworter des Projektes beeilen sich dann auch, eventuelle Einwände in diese Richtung als unbegründet abzutun. „Es ist nicht so, dass die Pharmafirma neben dem Krankenbett steht und dem Arzt sagt, welches Medikament er verordnen soll“, argumentiert das Bundesgesundheitsministerium. Auch dürften die Ärzte weiterhin selbst entscheiden, welches Medikament dem Patienten verschrieben wird und welches nicht. Die AOK Niedersachsen betont auf Nachfrage des Versicherungsboten, dass schon bei der Ausgestaltung des Kooperationsvertrages auf etwaige Proteste Rücksicht genommen wurde. Laut einer Klausel darf das Engagement des Pharmaunternehmens nicht dazu führen, dass vermehrt die eigenen Medikamente an die betreuten Patienten verkauft werden.

Auch an der Versorgung der Patienten werde gespart

Doch nicht allein die Vermarktungsinteressen des Pharmaherstellers nähren die Befürchtung, bei dem niedersächsischen Projekt könnten Renditeerwartungen wichtiger gewesen sein als die Sorge um das Patientenwohl. Gegner der Kooperation bemängeln, dass auch an der Betreuung der Patienten gespart werde. So sollen die Schizophreniekranken vermehrt vor Ort betreut werden und nicht mehr so oft im Krankenhaus. Verantwortlich für die Betreuungsaufgaben ist die Janssen Cilag-Tochter Care4S. Das Unternehmen wolle die Kosten drücken, indem immer mehr Betreuungsaufgaben von qualifizierten Ärzten auf Pflegepersonal verlagert werden, kritisiert Thomas Zauritz, Geschäftsführer des AWO-Psychiatriezentrums in Königslutter bei Braunschweig.

Die AOK räumt auf Nachfrage der Financial Times sogar ein, dass es anfangs Probleme bei der lokalen Versorgung von Patienten gab. Der Kooperationspartner hatte schlichtweg zu wenig Mitarbeiter eingestellt, um alle Verträge erfüllen zu können. Stellenabbau und der Abbau qualifizierter Betreuung – sieht so eine Verbesserung der Versorgung psychisch Kranker aus, wie es die AOK versprach?

Dass die Krankenkasse Kosten einsparen will ist kein Geheimnis. Unter anderem sollen die kürzeren Klinikaufenthalte der Schizophrenen eine Senkung der Ausgaben bewirken. Der Modellversuch könnte bundesweit Schule machen, sollte die AOK tatsächlich ihre Kosten drücken. Laut Financial Times wird die Kooperation mit dem Pharmaunternehmen auch in anderen Bundesländern aufmerksam beobachtet, der Vertrag läuft noch bis zum Jahr 2017.

AOK betont Nutzen für Patienten

Die AOK Niedersachsen will die Kritik allerdings nicht unwidersprochen auf sich sitzen lassen. Sie hält Gegnern des Modellversuchs entgegen, dass die bisherigen Erfahrungen mit Janssen-Cilag trotz der Anlaufprobleme positiv seien. Zwar habe man durchaus das Ziel, bei den Ausgaben für Klinikaufenthalte zu sparen. Aber weil zugleich die ambulante Versorgung verbessert werde, könne dies sogar eine Verbesserung der Lebensqualität für psychisch Kranke bedeuten. Sie werden in ihrer gewohnten Umgebung betreut statt in einem unpersönlichen Krankenhaus. Zudem betont die Krankenkasse, dass das Projekt umfassend evaluiert werde - bei negativen Erfahrungen könne man die Kooperation jederzeit beenden.

Mediziner und Patientenvertreter sind alarmiert

Dennoch sorgen sich Mediziner und Patientenvertreter um die Unabhängigkeit der psychologischen Betreuung. Peter Falkai, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, sieht sogar eine Grenze überschritten, wenn Krankenkassen mit Hilfe von Pharmakonzernen Kosten einsparen wollen. „Sie wollen die Kränksten behandeln und dabei auch noch Geld sparen – das muss schief gehen“, sagte er der FTD.

Sein Kollege Jürgen-Helmut Mauthe, Professor für Psychiatrie an der Universität Braunschweig, verweist darauf, dass gerade die Psychiatrie für solche Experimente ungeeignet sei. „Schizophrene Menschen organisieren sich kaum, sie wehren sich leider nicht, auch wenn sie schlecht behandelt werden.“ Das Unternehmen verfolge Gewinnmaximierung, dies müsse sich auch auf die Patientenversorgung auswirken. "Das ist, als ob Herzklappenchirurgen die Herzchirurgie betreiben würden."

Gesellschaftliche Debatte über Missbrauch von Psychopharmaka

Die Macht der Arzneifirmen und die Verschreibungspraxis bei Psychopharmaka war in den letzten Monaten wiederholt Gegenstand von Debatten. Kritiker stören sich vor allem daran, dass immer mehr Kinder zur Einnahme von Psycho-Pillen gedrängt werden.

Kanadische Wissenschaftler veröffentlichten eine Studie im Canadian Medical Association Journal, wonach bei Schulanfängern oft zu Unrecht die Diagnose ADHS gestellt wird. Millionen Schulanfänger erhalten demnach Medikamente wie Ritalin, obwohl sich hinter der Diagnose "Zappelphillip-Syndrom" oftmals normales kindliches Verhalten verbirgt. Die Techniker Krankenkasse kritisierte in ihrem Arzneimittelbericht 2011, dass auch in Deutschland immer mehr Kinder Ritalin verordnet bekommen.

Die Pharmafirmen profitieren freilich von dem Boom. Allen Frances, emeritierter Professor der amerikanischen Duke University, warnte vor Millionen von Scheinpatienten, wenn seelische Störungen zu schnell zu Krankheiten erklärt werden. "Wir kommen an den Punkt, an dem es kaum noch möglich ist, ohne geistige Störung durchs Leben zu kommen", schreibt der Psychologe auf seiner Webseite. Seien es kleinere Potenzprobleme oder Schlafstörungen aufgrund von zu viel Kaffee – die Bereitschaft zur medikamentösen Behandlung von Problemen sei in den letzten Jahren deutlich gestiegen.

Stiftung Deutsche Depressionshilfe wirbt für die Verwendung von Antidepressiva

Zahlreich sind aber auch die Befürworter von Psychopharmaka. Am Montag erschien u.a. eine Pressemitteilung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe (Depression und Suizidalität: Die neun häufigsten Fehlannahmen, Missverständnisse und Irrtümer), in der die positive Wirkung von Antidepressiva angepriesen wird. Weder würde Antidepressiva die Persönlichkeit ändern noch zu Sucht führen, erklärt Prof. Dr. Ulrich Heger, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig, als Verfasser des Textes. Stattdessen würde das Wohlbefinden von Depressiven durch die Medizin deutlich gesteigert, ja ein normales Leben erst möglich gemacht.

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„Suchtgefahr besteht dagegen bei Schlaf- und Beruhigungsmitteln, z.B. bei Valium-artigen Medikamenten, mit denen Antidepressiva nicht verwechselt werden dürfen“, heißt es in der Meldung der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Eine Therapie mit Johanniskraut wäre demnach riskanter als der Griff zu Prozac oder Ritalin. Dass es durchaus kritischere Einschätzungen der Wirkung von Psychopharmaka gibt, thematisiert der Verband, für den u.a. Harald Schmidt als Schirmherr wirkt, in seinem Pressetext nicht. Vor zwei Monaten hatte etwa die Barmer GEK in ihrem Arzneimittelreport auf eine mögliche Suchtgefahr hingewiesen.