Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young unter 126 Insolvenz- und Restrukturierungsberatern, Bankmanagern, Insolvenzverwaltern und Investoren. Die große Mehrheit dieser Insolvenzexperten (77 Prozent) erwartet, dass die Anzahl der Restrukturierungsfälle in den kommenden 12 Monaten leicht zunehmen wird. Zehn Prozent der Befragten rechnen sogar mit einer starken Zunahme. Damit sind sie wesentlich weniger optimistisch als noch im Vorjahr: Im April 2011 hatten nur 28 Prozent der Befragten mehr Restrukturierungsfälle erwartet.

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Vor allem Automobil- und Schiffahrtsunternehmen gefährdet

Zwar hatten viele Unternehmen im Aufschwung die Gelegenheit, komfortable Finanzpolster anzulegen – einige stehen finanziell sogar besser da als vor Beginn der Krise. Doch das gilt längst nicht für alle Branchen. „In besonders wettbewerbsintensiven Branchen wie der Automobilindustrie hatten zum Beispiel die Zulieferer kaum eine Chance, im Aufschwung finanzielle Rücklagen zu bilden. Dafür ist der Preisdruck viel zu hoch“, stellt Richter fest. Kein Wunder also, dass die befragten Insolvenzexperten in der Automobilbranche besonders viele Insolvenz-Kandidaten vermuten. 25 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass Automobilzulieferer in den kommenden zwölf Monaten besonders häufig in eine finanzielle Schieflage geraten werden.

Noch stärker gefährdet sind nach Einschätzung der Insolvenzexperten nur Unternehmen der Schifffahrtsbranche. „Die Unternehmen schlagen sich mittlerweile durch das vierte Krisenjahr in Folge. Ihre Finanzierungsmodelle stehen stark unter Druck“, sagt Richter. Sinkende Fracht- und Charterraten bei gleichzeitig steigenden Bunkerpreisen im konjunkturellen Abschwung machten den Reedern zu schaffen. Die Schifffahrtsindustrie finanziert sich in der Regel über geschlossene Fonds. Ihnen fehlen nun zunehmend – soweit die Schiffe in Spotmärkten operieren – die nötigen Einnahmen, um Zinsen zu zahlen, Kredite zu tilgen und die von Anlegern geforderte Rendite zu erwirtschaften. „Viele Investoren werden nicht mehr bereit sein, Eigenkapital nachzuschießen, um die Schiffe durch die Krise zu bringen“, sagt Richter. Fast 40 Prozent der Insolvenzexperten erwarten daher steigende Insolvenzzahlen in dieser Branche.

Steigender Wettbewerbsdruck und verschlafene Trends 


Auch für Unternehmen im Handel und im Maschinenbau könnte es zunehmend finanziell eng werden, zeigt die Umfrage. „Vor allem die befragten Bankberater und Insolvenzverwalter, die Einblick in die Bilanzen vieler Unternehmen haben, sehen Risiken auf die Unternehmer zukommen“, warnt Richter. Als Hauptgründe sehen die Insolvenzexperten den steigenden Margendruck auf vielen Märkten.

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Viele Unternehmen haben aus ihrer Sicht aber auch wichtige Marktveränderungen verschlafen und es versäumt, nötige Anpassungen bei Prozessen und Abläufen im eigenen Betrieb vorzunehmen. In den kommenden zwölf Monaten werden sich zudem viele Unternehmen mit einer restriktiveren Kreditvergabe durch die Banken, einer schlechteren Zahlungsmoral ihrer Kunden und schrumpfenden Erträgen auseinandersetzen müssen, prognostizieren die Insolvenzexperten.

Unternehmer erkennen Krise zu spät


Unternehmer bemerken häufig zu spät, dass ihr Betrieb in eine Schieflage rutscht – nämlich erst dann, wenn Eigenkapital und Liquidität knapp werden und die Zahlungsunfähigkeit akut droht, kritisieren die Insolvenzexperten. Spätestens dann ist eine Restrukturierung nicht mehr zu vermeiden. Als wichtigste Maßnahmen sehen die Befragten in diesem Fall operative Kostensenkungsmaßnahmen, eine Reduzierung der Produktpalette und einen Verzicht der Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen. „Erst durch diese Maßnahmen wird wieder finanzielle Handlungsfähigkeit hergestellt, so dass eine Neuaufstellung etwa durch Erschließung neuer Geschäftsfelder und Märkte möglich wird“, so Richter.

Neues Insolvenzrecht kommt zur rechten Zeit


Die am 1. März 2012 in Kraft getretene Reform des Insolvenzrechts werde Unternehmen die Sanierung etwas erleichtern, erwarten die befragten Insolvenzexperten. Das Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) bietet einen Schutzschirm für Unternehmen, die in einer finanziellen Schieflage stecken: Unternehmer können in der Insolvenz eine Sanierung in Eigenverwaltung durchführen, eine Art freiwilliges Insolvenzverfahren vor der tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit. Dazu wird ihnen ein sogenannter Sachwalter zur Seite gestellt, der die Eigenverwaltung beaufsichtigt.

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Kümmern sich Unternehmer frühzeitig um eine notwendige Restrukturierung, müssen sie die Kontrolle über ihren Betrieb also nicht abgeben. Ziel der Reform ist es, den Unternehmern die Angst vor der Insolvenz zu nehmen. „Das Gesetz geht in die richtige Richtung“, sagt Richter: „Unternehmer sollen einen Anreiz bekommen zu handeln, solange sie noch genügend Handlungsspielraum für eine Sanierung haben.“

Insolvenz gilt immer noch als Scheitern


Dennoch gehen die befragten Insolvenzexperten davon aus, dass das Gesetz nur eine leichte Verbesserung der Rahmenbedingungen für notleidende Unternehmen mit sich bringen wird. Sie halten die Stärkung des Insolvenzplanverfahrens für sinnvoll, glauben jedoch nicht, dass viele Unternehmen das Schutzschirmverfahren nutzen werden. „Ein offizielles Insolvenzverfahren gilt vielen Unternehmern immer noch als Stigmatisierung. Sie fürchten, dass Geschäftspartner und Kunden dann das Vertrauen in ihr Unternehmen verlieren“, sagt Richter.

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Die Erfahrungen der Insolvenzexperten zeigen, dass Unternehmer trotz der Reform so lange wie möglich warten, bis sie einen Antrag auf ein Insolvenzverfahren stellen. Auch nach dem Antrag erschwert die fehlende bzw. mangelhafte Transparenz in Form von aussagefähigen Unternehmensdaten die Arbeit des Insolvenzverwalters, beklagen Insolvenzexperten. Fehlende Einsicht bei den verantwortlichen Managern und enge Zeitfenster für die Sanierung sehen sie als größte Hindernisse bei ihrer Arbeit. „Wenn es schon fünf vor zwölf ist, wird die Sanierung eben für alle Beteiligten schwierig“, berichtet Richter.

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