Patienten, die hungerten und sich wund lagen, Geräte in der Notaufnahme, die abgestellt waren, weil sie keiner bedienen konnte – ein am Mittwoch vorgestellter Report hat schockierende Zustände im britischen Gesundheitssystem NHS aufgedeckt. Zwischen 2005 und 2009 sollen in einem Krankenhaus in Stafford zwischen 400 und 1.200 Patienten gestorben sein, weil sie schlecht behandelt worden waren und auch das Personal völlig überfordert gewesen sei, berichtet heute der Guardian (Donnerstag).

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Patienten mussten Wasser aus Blumenvasen trinken

Die Zustände im Stafford Hospital seien schockierend gewesen. Patienten wurden nicht gewaschen und vegetierten in ihrem eigenen Kot und Urin dahin. Sie mussten Wasser aus Blumenvasen trinken, weil sie vom Personal kein Trinkwasser erhielten, auch Essen bekamen sie nicht. Den Patienten wurden sogar überlebenswichtige Medikamente verweigert und einige verstarben, weil Ärzte fehlerhafte Diagnosen stellten. Am Mittwoch präsentierte nun David Cameron die Ergebnisse eines Untersuchungsberichtes, der den wohl größten Skandal in der jüngeren Geschichte des britischen Gesundheitssystems aufdecken sollte.

„Dies ist ein Bericht von ungeheuerlichem und unnötigem Leiden hunderter Menschen“, zitiert die New York Times Rechtsanwalt Robert Francis, der von der Regierung zur Überprüfung der Fälle eingesetzt wurde. Das Leid sei zurückzuführen auf das Versagen eines Systems, welches finanzielle Interessen über das Patientenwohl gestellt habe und Warnzeichen ignorierte. Auch die Kontrollorgane des Gesundheitssystems hätten völlig versagt – Ärzte hätten stillgehalten, Behörden absichtlich weggeschaut. Erst nach massiven Beschwerden von Patienten und Angehörigen seien die Vorfälle an die Öffentlichkeit gedrungen.

Dabei lässt der Francis-Report keine Zweifel daran, dass die Profitgier der Krankenhausbetreiber wesentlich zu den Missständen beigetragen hat. Das Personal sei schlecht ausgebildet gewesen und habe kaum Zeit gehabt, sich um die Patienten zu kümmern. Strenge Sparvorgaben des Managements führten dazu, dass zu wenig Geld in die Patientenversorgung floss. So habe das Stafforder Krankenhauses in den Jahren 2006 und 2007 10 Millionen britische Pfund einsparen wollen, um den sogenannten „foundation-trust“-Status zu erhalten. Dieser Status erlaubt es britischen Krankenhäusern, eine größere Unabhängigkeit vom nationalen Gesundheitsdienst NHS zu erreichen und Kooperationen mit regionalen Anbietern einzugehen – allerdings unter strengen ökonomischen Auflagen. Das Hospital sei infolge externer Zielvorgaben notorisch überbelegt gewesen.

David Cameron entschuldigt sich öffentlich bei den Angehörigen

David Cameron sprach den Angehörigen der geschädigten Patienten vor dem britischen Unterhaus sein tiefstes Bedauern aus. Bei der Vorstellung des Francis-Reports nannte er laut Guardian drei wesentliche Missstände im britischen Gesundheitssystem, die in die Katastrophe mündeten. Zum einen seien finanzielle Interessen über das Patientenwohl gestellt worden. Es habe aber auch eine schier unmoralische Einstellung im Krankenhaus vorgeherrscht, wonach das „Patientenwohl immer das Problem der anderen sei“. Zudem habe eine Kultur der Selbstgefälligkeit dazu beigetragen, die Missstände aus dem Blickfeld zu verlieren.

Der Premier verteidigte zugleich das britische Gesundheitssystem NHS gegenüber den Parlamentariern. „Es ist eine fantastische Einrichtung, eine großartige Organisation, ich will immer das Beste darin sehen“, sagte Cameron. Der Großteil des Gesundheitspersonals mache einen großartigen Job und notwendige Reformen seien bereits eingeleitet.

Vorschläge der Kommission: Veröffentlichungspflicht für Krankenhaus-Missstände

Damit sich Ungeheuerlichkeiten wie im Stafford Hospital nicht mehr zutragen können, schlug die Francis-Kommission tiefgreifende Veränderungen im britischen Gesundheitssystem vor. Unter anderem sollen Krankenhausmanager und -vorstände sich an einem Meldesystem beteiligen, das es erlaubt, Missstände schneller aufzudecken und notfalls das Führungspersonal abzuberufen. Eine Pflicht zur Veröffentlichung von Krankenhausmissständen soll landesweit für mehr Transparenz sorgen, so dass die Patienten mehr Entscheidungsfreiheit haben, wo sie sich behandeln lassen. Zudem sollen zukünftig keine Knebelverträge mehr erlaubt sein, die es einem Krankenhaus gestatten, schlecht bezahltes und unterqualifiziertes Personal einzustellen. Sogar die Schließung von Krankenhäusern steht zur Debatte.

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David Cameron denkt derweil über Zielverträge für Krankenhauspersonal nach. Die Bezahlung soll sich zukünftig stärker daran orientieren, wie sehr die klinische Versorgung auf das Patientenwohl ausgerichtet ist. Zielvereinbarungen sollen dafür Qualitätskriterien festlegen.