Alle unter Generalverdacht!
In einem Interview mit dem Handelsblatt sagte Andreas Dombret, Bankmanager, Wirtschaftswissenschaftler und Vorstand der Bundesbank, mit Blick auf die Zinsmanipulation im Libor-Skandal: „Wir sollten es vermeiden, die Marktteilnehmer unter Generalverdacht zu stellen.“ Zwar spricht sich der Spitzenbanker grundsätzlich für eine Bestrafung von Zinsmanipulationen aus – aber wenn schon, dann doch bitte auf eine moderate Art und Weise. Aber mal ehrlich: Stehen wir nicht alle irgendwie unter Generalverdacht - ständig, immer, überall?
Keine Sorge: Unter Generalverdacht stehen die Bundesbürger schon lange. Wer einen Regionalzug der Deutschen Bahn nutzen will, muss bereits ein Ticket gelöst haben, bevor er den Zug betritt – schließlich ist jeder Bahnnutzer ein potentieller Schwarzfahrer. Die Verkäuferin bei Aldi oder Kaufland wird es sich nicht nehmen lassen, an der Kasse noch einmal einen Blick in den Einkaufswagen zu werfen, bevor der Kunde seine Ware einräumen kann – schließlich ist jeder Einkäufer ein potentieller Dieb. Wer Hartz IV beantragt, muss sein Vermögen bis auf den letzten Cent offen legen und drei Monate lückenlos seine Kontoauszüge vorlegen – schließlich ist jeder Hartz IV-Empfänger ein potentieller Betrüger. Und wer ein Flugzeug nutzt, muss sein Gepäck untersuchen und sich befummeln und befingern lassen – schließlich ist jeder Flugpassagier ein potentieller Terrorist.
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Der Verdachtsmoment im Kleinen
Der Alltag steckt voll kleiner und großer Boshaftigkeiten, bei denen sich der Bürger unter Verdacht gestellt sieht. Viele Nahverkehrsgesellschaften haben es zur Pflicht erhoben, dass ein Fahrgast nur vorne in den Bus einsteigen darf, damit der Busfahrer noch einmal das Ticket kontrollieren kann. Also stellen wir uns brav in die Reihe, warten und zeigen zum wiederholten Male das Ticket vor, selbst wenn es in Strömen regnet, man wegen der Warterei am Leib ganz nass wird und es absehbar ist, dass der Bus genau wegen dieser Einstiegsprozedur Verspätung haben wird. Elektronikdiscounter schreiben es vor, dass man Sport- und Reisetaschen in einem Schließfach verstauen muss und nicht mit in den Laden nehmen darf, schließlich könnten ja Langfinger Sachen in der Tasche verschwinden lassen. Also schließen wir brav unsere Taschen weg und akzeptieren es auch, wenn beim Einkauf immerzu die Augen eines Kaufhausdetektivs und vieler Kameras auf uns gerichtet sind. Wir öffnen bereitwillig unsere Hand- und Einkaufstaschen, wenn das Verkaufspersonal vergaß eine Ware zu entsichern und diese beim Verlassen des Kaufhauses piept. Wir lassen uns beim Betreten eines Fußballstadions von oben bis unten abtasten, wenn die Security dies für notwendig erachtet. Und wir erscheinen zeitiger am Bahnhof, damit wir noch Zeit haben, vor Betreten des Zuges ein Ticket zu lösen.
All das sind Maßnahmen, die die individuelle Freiheit des Bürgers einschränken. Die den Alltag ein Stück weit komplizierter machen. Die den Bürger entmündigen und – ja, auch demütigen. Sie werden durchgesetzt vom Staat, weil er seinen Bürgern misstraut. Von Unternehmen, weil sie ihren Kunden misstrauen. Von Menschen, weil sie anderen Menschen misstrauen. Der Bürger steht unter Generalverdacht – beinahe immer, ständig, überall. Den theoretischen Überbau für dieses allgegenwärtige Misstrauen bildet das Menschenbild des Homo oeconomicus – zumindest in seiner rationalen Verkürzung. Wenn der Mensch per se ein Egoist ist, der seinen wirtschaftlichen Vorteil gegen andere Menschen durchsetzen will, dann gehört Misstrauen zu der wichtigsten Grundausstattung des Menschen. Dass Marktteilnehmer, ja Individuen unter Generalverdacht stehen, ist eine Grundannahme vieler ökonomischer Theorien.
Der Vorteil vom Nachteil: Generalverdacht lohnt sich auch für den Verdächtigen!
Das freilich geht nicht ohne die positive Umdeutung aller Verdachtsmomente ab. Die Deutsche Bahn etwa startete vor rund zwei Jahren eine große Kampagne, mit der sie den Vorteil des Nachteils erklären wollte, warum fortan in Regionalzügen kein Fahrkartenkauf mehr möglich ist. Eigentlich bedeutet dies eine Verschlechterung des Serviceangebotes. Auf der Webseite des Unternehmens aber heißt es: „Jeder Fahrgast muss vor Reiseantritt in Besitz einer gültigen Fahrkarte sein - Nachlösen im Zug ist dann nicht mehr möglich. So haben unsere Zugbegleiter mehr Zeit, Sie zu betreuen und mit Informationen zu versorgen. Damit stellen wir auch sicher, dass wirklich alle unsere Fahrgäste ein Ticket für ihre Fahrt gekauft haben.“
Die Zugbegleiter haben mehr Zeit, die Reisenden zu betreuen – weil sie keine Fahrkarten mehr verkaufen? Ist das nicht absurd? Das Versprechen der Deutschen Bahn: Mehr Service durch schlechteren Service. Die Drohung: Wer nichts zu verbergen hat, akzeptiert auch die neuen Spielregeln. Doch wer vergisst vor Betreten des Zuges ein Ticket zu lösen, etwa weil er spät am Bahnhof eintrifft und schnell zum Bahnsteig gelangen muss, der gilt nun tatsächlich als Schwarzfahrer – eigentlich eine Frechheit. Nur durch die Blume wird mit dem letzten Satz kommuniziert, dass der Fahrgast per se als Betrüger verdächtigt wird. Man nimmt dem Bürger seine Rechte und verspricht als Gegenleistung einen Bonus – mehr Sicherheit, mehr Service, weniger Schaden für Alle. Und bereitwillig geben viele Bürger ihre Rechte ab.
Im Zweifel hilft noch immer das Versprechen, den Bürger vor sich selbst zu schützen. Soeben hat die EU entschieden, dass zukünftig auf den Tischen von Restaurants keine Kännchen mit Olivenöl mehr stehen dürfen. Ab dem 01. Januar 2014 müssen Gastronomiebetriebe Einwegflaschen anbieten, die versiegelt und nicht nachfüllbar sind. Die Begründung für das Verbot: Es sei eine Entscheidung im Sinne des Verbraucherschutzes. Damit werde sichergestellt, dass der Kunde in Restaurants kein minderwertiges Öl angedreht bekomme, sagte ein EU-Sprecher, der auch auf Hygieneprobleme hinwies.
Auch beim Oliven-Verbot wird der Bürger für verdächtig erklärt: Er ist verdächtig, naiv, unwissend und leicht betrügbar zu sein. Er muss vor seinem fehlenden Urteilsvermögen beschützt werden. Viele EU-Verbraucherschutzverordnungen funktionieren nach diesem Prinzip. Die Süddeutsche Zeitung beschrieb das Olivenöl-Verbot als „die vielleicht schrägste Entscheidung seit der legendären Gurkenkrümmungsverordnung“. Lieber Bürger, du bist verdächtig, ein Idiot zu sein – also nutze die Vorteile, die sich daraus ergeben, Stupid!
Banken unter Generalverdacht – Warum eigentlich nicht?
Nun aber zurück zu der Eingangsbehauptung von Andreas Dombret: Sollte es der Gesetzgeber vermeiden, die Marktteilnehmer unter Generalverdacht zu stellen, in diesem Fall die großen Banken? Während der Ottonormalbürger wohl niemals all die Verbrechen begehen kann, derer er prophylaktisch verdächtigt wird – dafür reicht die Lebenszeit einfach nicht aus, so haben bei der Manipulation von Libor und Euribor viele große Geldhäuser mitgemischt: Die UBS, Barclays, Credit Suisse, HSBC, Lloyds und die Royal Bank of Scotland, um nur einige zu nennen.
Ja, sogar drei ehemalige Arbeitgeber des Herren Dombret waren an der Manipulation beteiligt, nämlich die Deutsche Bank, JP Morgan und Bank of America. Da mag es kaum verwundern, dass der Spitzenbanker um Nachsicht bittet: Er ist Teil des Systems, das die Manipulationen lange Zeit unterstützt und geduldet hat. Über zwanzig Banken sollen zwischen 2005 und 2009 den Libor manipuliert haben – zum eigenen Vorteil. Und zum Nachteil von Millionen Unternehmern, Häuslebauern und Kreditnehmern weltweit, die teils deutlich höhere Zinsen zahlen mussten.
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Die Banken haben also über Jahre hinweg gelogen und betrogen. Sie haben sich wissentlich einen Vorteil auf Kosten anderer verschafft. Der Schaden für die Weltwirtschaft beträgt rund 17,1 Milliarden Dollar, schätzen Experten von Morgan Stanley. Viele der Verantwortlichen, die an den Manipulationen beteiligt waren, haben nicht einmal ihren Job verloren. Ein wenig mehr Generalverdacht gegenüber den Geldhäusern könnte da nicht schaden, sie stehen sozusagen als Wiederholungstäter unter Beobachtung. Vielleicht empfiehlt es sich, die Bürger im Gegenzug weniger unter Verdacht zu stellen.