150 Jahre Sozialdemokratie - SPD feiert sich in Leipzig selbst
Am Donnerstag feierte die SPD mit einem Festakt im Leipziger Gewandhaus und anschliessendem Bürgerfest ihren 150. Geburtstag. Versicherungsbote hat sich unter das Volk gemischt – und beim Festakt der Sozialdemokraten beobachtet, dass Altbundeskanzler Gerhard Schröder der heimliche Gewinner der Feierlichkeiten war. Seine Agenda 2010 wurde beinahe von allen Seiten gelobt.
Zum Jahrestag der SPD war Peer Steinbrücks Wahlkampf ausnahmsweise einmal süß. Auf dem Leipziger Markt verteilte der Kanzlerkandidat die Geburtstagstorte an jeden, der ein Stück davon haben wollte. Das stolze Gebäck, hergestellt von der Leipziger Konditorei Kandler, glänzte in den Farben der SPD – 15 Kilogramm Erdbeeren sorgten für den richtigen Rotton, berichtet die Leipziger Volkszeitung. Und Steinbrück, der zuletzt so oft Geschmähte, hatte sichtlich Spaß, seine süße Gabe an die Bürger zu verteilen. Einige Besucher des Volksfestes verlangten sogar Autogramme von Peer Steinbrück – als Popstar war der kühle Norddeutsche bisher wenig aufgefallen. „Ich möchte ein Autogramm vom zukünftigen Kanzler“, rief ein Mann, der extra aus Hamburg angereist war.
Anzeige
Auf 150 Jahre bewegte Geschichte kann die alte Dame SPD zurückblicken. Gefeiert wurde das Jubiläum am Donnerstag in Leipzig. Also an jenem Ort, wo am 23. Mai 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) unter Ferdinand Lasalle aus der Taufe gehoben wurde. Wenn auch damals noch nicht unter dem Namen SPD, so gilt das Datum seither als der Tag, an dem sich die deutsche Sozialdemokratie erstmals organisierte. Und wenn so eine traditionsreiche Volkspartei feiert, dann lässt sich auch die europäische Politprominenz auf der Gästeliste finden. 300 führende Politiker aus 80 Ländern waren angereist, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und mehrere Staatspräsidenten.
Versöhnung mit Schröders Reformpolitik
So durfte Frankreichs Präsident François Hollande beim Festakt im Leipziger Gewandhaus beweisen, dass auch er nicht der verklemmte Politiker ist, als der er in den Medien oft dargestellt wird. Lächelnd und gelöst lobte er die Verdienste der SPD für Deutschland und Europa. Doch was er da auf der pompösen Bühne des Gewandhauses vor 1.600 Ehrengästen verkündete, eingetaucht in das satte Rot der Parteifarben, dürfte bei der SPD-Basis auf dem Leipziger Markt weniger wohlwollend aufgenommen worden sein. Dort wurde der Festakt auf einer Großbildleinwand übertragen.
Hollande, angetreten einst als linke Hoffnung Europas, lobte ausdrücklich die „beispielhafte“ Reformpolitik Gerhard Schröders und damit die Agenda 2010. Fortschritt bestehe aus „mutigen Entscheidungen“, und die habe der damalige SPD-Kanzler getroffen, sagte Hollande. Es könne nicht Solides aufgebaut werden, wenn man die Augen vor der Wirklichkeit verschließe. Dieser Realismus sei ein Verdienst der SPD. "Die Sozialdemokratie hat Deutschland vorangebracht."
Doch Hollande ging in seiner Argumentation noch weiter. Dank Schröders Agenda 2010 sei Deutschland heute weiter als andere Länder Europas, hob der französische Staatspräsident die Vorbildfunktion Deutschlands hervor. Nun müsse man gemeinsam gegen „Egoismus, Populismus und Nationalismus“ in Europa kämpfen. Nicht alles könne aber auf Frankreich übertragen werden, dafür seien die Länder zu unterschiedlich. Sprach da derselbe Präsident, der noch vor Kurzem vor einer Ausweitung des deutschen Modells auf Europa gewarnt hatte?
Joachim Gauck: „Reformen statt Revolutionen, Stück für Stück“
Ähnliche Worte wie Hollande fand auch Joachim Gauck in seiner Rede. Der Bundespräsident würdigte die SPD als treibende Kraft bei der Durchsetzung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. „Es war die SPD, die auf Reform statt auf Revolution setzte. Und es war die SPD, die den mühsamen und schließlich mehrheitsfähigen Weg beschritt, das Leben der Menschen konkret Stück für Stück zu verbessern, anstatt utopische Fernziele zu proklamieren", so Gauck. Der Aufstieg aus sozial ärmeren Schichten durch Bildung sei 1863 revolutionär gewesen und gelte noch heute als politisches Ziel der Sozialdemokraten. „Der größte historische Verdienst der SPD war, große Teile der Arbeiterschaft mit der Demokratie zu verbinden.“ Auch unter den Nationalsozialisten hätte die SPD länger und tapferer für Demokratie gekämpft als andere Demokraten.
Dass Joachim Gauck mit diesen Worten ebenfalls die Reformpolitik Gerhard Schröders im Blick hatte, daran ließ er keinen Zweifel. Manchmal müsse es Parteien gelingen, ihren eigenen Wählern kurzfristig Zumutungen aufzuerlegen, die den eigenen Parteiinteressen widersprechen. "Aber wir haben es erlebt: Gerade solche Entscheidungen waren oftmals verantwortungsbewusste Entscheidungen für das ganze Land." Mit der SPD feiere das Land auch seine Kernforderungen – Freiheit, Teilhabe, politische und soziale Gerechtigkeit. Man konnte bei Gaucks Rede fast übersehen, dass das Unrechtsregime der DDR eben nicht durch Reformen gestürzt wurde, sondern durch eine Revolution. So wirkte seine Rede in manchen Punkten seltsam geschichtsvergessen.
Harmonie – und Wahlkampf?
Gerhard Schröder, der in den Reden viel gelobte, war natürlich auch da. Er saß beim Festakt in der ersten Reihe gleich neben dem Altkanzler und Dauerraucher Helmut Schmidt, der seine Zigarette während des Festaktes auslassen musste. Mit einem Lächeln im Gesicht genoss Schröder das viele Lob für seine historische Rolle. Und auch wenn sein Mittelfinger aufgrund eines Unfalls in blauen Gips gepackt war, musste er den Gästen nicht den Stinkefinger zeigen, wie Parteichef Sigmar Gabriel noch zu Beginn der Veranstaltung gescherzt hatte. Im Gegenteil: Man hatte den Eindruck, als hätten sich die europäischen Politiker in Leipzig eingefunden, um die Agenda 2010 und damit Schröder zu würdigen. Auf Nachfrage erklärte der 69jährige: Er habe eine Entzündung am Finger gehabt, die operiert werden musste, aber die OP sei gut verlaufen.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ es sich nicht nehmen, den Sozialdemokraten zu ihrem Jubiläum „von Herzen“ zu gratulieren. Sie nannte die SPD in einem Gastbeitrag für die Leipziger Volkszeitung eine „streitbare und unbeugsame Stimme der Demokratie in Deutschland“, der sie Respekt und Anerkennung ausdrücke. Jene Kanzlerin, von der man sagt, sie habe die CDU sozialdemokratisiert, klatschte bei vielen Redebeiträgen, als sei sie auf einer Veranstaltung ihrer eigenen Partei.
Zweifel an der Basis
Bei so viel Harmonie konnte man schon einmal vergessen, dass Wahljahr ist. Wer kritischere Töne hören wollte, der musste sich unter das Volk auf dem Leipziger Markt mischen, zwischen Bratwurstbude und Bierausschank. Dort, wo Peer Steinbrück und Sigmar Gabriel später die große Geburtstagstorte anschneiden sollten und Bands wie die "Prinzen" für Stimmung sorgten, gab es Genossen, die debattierten, ob diese SPD – die Partei der Agenda 2010 mit dem Millionenschweren Kanzlerkandidaten – eigentlich noch ihre Partei ist.
Einige hätten lieber Sigmar Gabriel oder Hannelore Kraft als Kanzlerkandidaten gesehen, weil diese sozialdemokratische Inhalte glaubhafter transportieren könnten. Eine aktuelle Umfrage des ARD-Morgenmagazins bestätigt die Skepsis: Demnach sehen 59 Prozent aller Bundesbürger die SPD nicht mehr als eine Partei, die die politischen Interessen der Arbeitnehmer vertritt. Von den SPD-Anhängern glauben noch zwei Drittel (66 Prozent) an die ursprüngliche Ausrichtung der Partei.
Anzeige
Auch die Umfragewerte der SPD sind nach wie vor im Keller. Zwar konnte man sich im ARD-Deutschlandtrend leicht auf 27 Prozent steigern. Aber für eine Regierungsbeteiligung reicht dies noch lange nicht. Sigmar Gabriel hat schon mal angekündigt, dass man auch in den kommenden 150 Jahren Geschichte schreiben will. „Die SPD lebt stets vom Hoffnungsüberschuss“, sagte Gabriel. Doch für den Erfolg wird Kanzlerkandidat Peer Steinbrück noch viele Torten anschneiden müssen.